Wie Karl Adam den deutschen Achter 1959 zur Weltsensation machte

Es war der 23. August 1959. Ruder-Europameisterschaft in Mâcon, Frankreich. Der Abstand, den die Lautsprecher von Marke zu Marke bekanntgaben, war schon imponierend. Eine halbe Länge, eine Länge, zwei Längen. Aber mehr noch beeindruckte die Schlagzahl – 40, 42, 44 –, die ungläubiges Staunen auf der Tribüne auslöste, als der Achter ins Blickfeld der Haupttribüne kam. Eine hochtourig arbeitende Maschine, allein auf weiter Saône. Längen dahinter, wie in einem Rennen für sich, Europas Elite mit Russland, Italien und der Tschechoslowakei auf gleicher Höhe im Kampf um den zweiten Platz. Aber sie interessierten nicht. Die Zuschauer sahen nur Deutschland. Bei 1.700 Metern ging ein Ruck durchs Boot, der Endspurt: Alles an Land schrie und tobte und packte sich gegenseitig. Ein Sieg wie noch nie in einem großen Achterrennen. Und der Sieger hieß Deutschland. 5:51,71 Minuten, Weltrekord, Europarekord. Lange, lange danach, als das deutsche Boot durchs Ziel war und sich an die Wende machte, kam das Feld der Verfolger, drei Boote in einem dichten Haufen, die Tschechen, die Russen, die Italiener und, weit abgeschlagen, der polnische Achter, der doch auch der Meisterachter eines Landes war, das hervorragend rudert. Aber zwischen ihm und dem deutschen Boot lagen sieben Längen, und die Polen brachen im Ziel zusammen. Sie hatten ihr Letztes gegeben.

Die Geburtsstunde des Deutschlandachters

Karl Adam bei Training in Macon

Karl Adam bei Training in Macon. Bild: Hall of Fame des Deutschen Sports

Es war die Geburtsstunde des Deutschlandachters. Und der Geburtshelfer war sein Trainer Karl Adam. Der Ruderprofessor vom Ratzeburger See, der selbst nie gerudert hat, Oberstudienrat für Mathematik, Physik und Leibeserziehung, hatte aus dem desaströsen Abschneiden im Jahr zuvor Schlüsse gezogen. Die althergebrachten Trainingsmethoden stagnierten, die einstige Herrschaft der deutschen Ruderer war dahin.

Adam verordnete dem Achter im Frühjahr 1958 ein neuartiges Training mit Anleihen bei der Leichtathletik: statt der ewigen 2000 Meter Intervall-Sprints von 500 Metern, die sich zweimal in der Woche mit Langstreckenrennen über zwölf Kilometer abwechselten. Dazu im Winter Kraftarbeit an zentnerschweren Hanteln. Und statt des Leihboots aus der EM in Posen im Jahr zuvor gab es nun ein modernes Boot, das der Physiker Adam mithilfe eigener Berechnungen modifizierte: verstellbare Ausleger, die je nach Schiebewind oder Windstille wie eine Gangschaltung optimalen Ruderdruck ermöglichten. An jeder noch so kleinen Stellschraube drehte Adam. Kraft gibt Längen. Technik gibt Meter, das war sein Credo.

Karl Adam am Boot

Die technische Weiterentwicklung war für Adam eine wichtige Stellschraube des sportlichen Fortschritts.

Eine dieser Stellschrauben waren Riemen und Skulls. Schon in den Jahren 1956 bis 1958 hatte Adam, gemeinsam mit Experten des Technischen Ausschusses des DRV, nicht nur mit verschiedenen Hölzern und Verleimungen, sondern vor allem mit neuartigen Blattformen experimentiert. Sogar Hochgeschwindigkeitskameras kamen zum Einsatz, um den Blattschlupf zu analysieren, der als Hauptverlustbringer in der Kraftübertragung galt. Insgesamt wurden zwölf neue Riemen- und acht Skullbätter erprobt. Im Winter 1958 war Adam dann so weit. Er hatte das Blatt gefunden, mit dem sein Achter im nächsten Sommer auf der Saône antreten sollte.

Neu daran war zum einen die Kontur, die zwar ebenso symmetrisch wie die jahrzehntelang gebräuchlichen, in England entwickelten länglich-schmalen square blades und coffin blades waren, nun aber eine kürzere, breitere Form, eine Tulpe, zeigten. Vor allem die verbreiterte Rippe auf der Vorderseite brachte deutliche Verbesserungen der Torsionsmomente und der Anströmung des Blattes. Mit dem Jahrhundertsieg in Mâcon war die Frage nach der idealen Blattform für lange Zeit beantwortet. Weltweit wurden nun die Adam’schen Blätter hergestellt. Und weltweit trug es von nun an den Namen Mâconblatt.  Adams Erfindung gibt es bis heute und gilt als Standardblatt im Anfänger- und Wanderrudern. Erst in den 1980er-Jahren, nachdem dem der Einsatz von superleichten und hochfesten Kohlefaserwerkstoffen im Skull- und Riemenbau zum Wettkampfstandard wurde, entwickelten Fluiddynamiker des US-Herstellers Concept2 neue, nun asymmetrische Blattformen, unterstützt von neuen Messmethoden und Computerberechnungen: Das Big Blade oder Cleaver, vulgo Hackebeil, war erfunden.

 

Ruderblätter

Weiterentwicklung des Ruderblatts. Bild: Yeti Hunter, CC BY-SA 3.0

Das Nachspiel – Rudersport im Kalten Krieg als politisches Aushängeschild

Der sensationelle Sieg des Deutschlandachters hatte übrigens ein Nachspiel. Die nicht eben als gute Verlierer bekannten Teams des Ostblocks warfen Adam vor, ihre Boote manipuliert zu haben. Adam schrieb darauf in einer Publikation Ratzeburger Ruderclub 1959 über den Vorwurf der Kalten Krieger:

„In der ostzonalen und Satellitenpresse wurde nach Mâcon gemeldet, der Tschechenachter sei vor dem Endlauf von kapitalistischen Verbrechern angebohrt worden und nur dadurch um den sicheren Sieg gekommen. Den Erfindern dieser Bohrung ist leider bei allem Talent ein Schnitzer unterlaufen: Sie hätten unbedingt den russischen Achter gleichzeitig anbohren oder sonst wie beschädigen müssen, andernfalls kommt es zu dem nach kommunistischem Glauben völlig absurden Tatbestand, dass ein intakter russisch‐bolschewistisch‐ kommunistisch‐marxistisch‐leninistisch‐stalinistisch‐chruschtschowistischer Nationalachter von einem angebohrten tschechischen Achter geschlagen wird. Heiliger Marx, gebenedeiter Engels, verklärter Lenin, blutiger Stalin und munterer Chruschtschow, da kann man doch beinah ebenso gut als Tatsache gelten lassen, dass ein reaktionärer bundesrepublikanischer Kapitalistenachter, so reaktionär, dass alle Ruderer in demselben rückwärts fuhren, drei Längen vor zwei einwandfrei proletarischen, ideologisch ausgerichteten Booten ins Ziel kam.“       

Der Artikel von Karl Spurzem erschien in der Galeere, Oktober 2017.

Titelbild: Der Deutschlandachter mit Macon-Blättern. Manfred Rulffs, Walter Schröder, Frank Schepke, Kraft Schepke, Betreuer Karl Wiepcke, Trainer Karl Adam, Moritz von Groddeck, Karl-Heinz Hopp, Klaus Bittner, Hans Lenk; sitzend Steuermann Willi Padge. Aufgenommen in Rom, 1960. Ullstein Bild

Weiterführende Links:
Karl Adam in der Hall of Fame des Deutschen Sports
Karl Adam, Vater des Deutschlandachters (Buch)