Auf der Suche nach dem Swing. Ein Fundstück aus der Literatur, veröffentlicht in der Galeere, 2015

Was uns der Autor der “Schatzinsel” über das Wanderrudern verrät

Robert Louis Stevenson, schottischer Schriftsteller und Autor der berühmten „Schatzinsel“, unternahm als 25-Jähriger im Sommer 1876 mit seinem Freund Walter Simpson eine Wasserwanderung von Antwerpen quer durch Belgien und Hauts-de-France bis zur Mündung der Oise in die Seine. Die beiden Gefährten waren mit Kanus unterwegs. Stevenson erlebte dabei jedoch eine besondere Art des Swing, die auch von Wanderruderern gut nachvollziehbar ist.

Kanufahren war leichte Arbeit. Das Paddel im richtigen Winkel einzutauchen, mal rechts, mal links, in die glitzernden Funken aus Sonnenlicht auf dem Wasser zu blinzeln, war keine große Kunst. Gewisse alberne Muskeln schafften das zwischen Schlaf und Wachsein, und inzwischen nahm sich der Kopf einen Tag frei und schaltete ab. Mit einem Blick nahmen wir die größeren Marken der Landschaft wahr und sahen mit halbem Auge Fischer in Hemdsärmeln und planschende Wäscherinnen am Ufer. Ab und zu wurden wir vielleicht von einem Kirchturm, einem springenden Fisch oder einem Teppich aus Flussalgen, der von dem Paddel abgestreift und entfernt werden musste, halb geweckt. Doch diese erleuchteten Intervalle waren nur teilweise erleuchtet. Ein Tel unseres Wesens musste zur Tat schreiten, doch niemals das ganze. Das Zentralbüro der Nerven, das wir in einer gewissen Stimmung als Ich bezeichnen, genoss seinen Urlaub ungestört wie ein Regierungsamt. Die großen Räder des Intellekts drehten sich müßig im Kopf wie Windmühlen, die kein Korn mahlen.

 

Ich habe eine halbe Stunde damit zugebracht, meine Paddelschläge zu zählen, und dabei Hunderte vergessen. Ich schmeichele mir, dass nicht einmal sterbende Tiere diese niedrige Form von Bewusstsein unterbieten können. Und was für ein Vergnügen das war! Was für eine herzliche, duldsame Stimmung das mit sich brachte! Da ist nichts Pedantisches mehr an einem Menschen, der diesen Zustand erreicht hat, diese einzig mögliche Apotheose im Leben, die Apotheose der Benommenheit; er beginnt sich würdevoll und langlebig wie ein Baum zu fühlen.

Da gab es ein seltsames Stück angewandter Metaphysik, die das, was ich die Tiefe, wenn nicht sogar die Intensität meiner Geistesabwesenheit nennen möchte, begleitete. Das, was Philosophen als Ich und Nicht-Ich, ego und non ego, bezeichnen, beschäftigte mich, ob ich es wollte oder nicht. Es gab weniger Ich und mehr Nicht-Ich, als ich für gewöhnlich erwarten würde. Ich beobachtete jemand anderen, der das Paddeln übernahm; ich fühlte die Füße eines anderen gegen die Fußleiste drücken; mein eigener Körper schien nicht mehr zu mir zu gehören als das Kanu oder der Fluss oder die Flussufer.

Und damit nicht genug. Etwas in meinem Verstand, ein Teil meines Hirns, eine Provinz meines wahren Wesens hatte die Gefolgschaft aufgekündigt und war auf eigene Faust unterwegs oder vielleicht für jenen anderen, der das Paddeln unternommen hatte. Ich war zu einem ziemlich kleinen Ding in einem Winkel meines Bewusstseins geworden. Ich war in meinem eigenen Schädel isoliert. Gedanken präsentierten sich ungebeten, es waren nicht meine Gedanken, es waren eindeutig die eines anderen, ich betrachtete sie wie einen Teil der Landschaft. Kurzum, ich vermute, dass ich dem Nirwana zu nahe gekommen bin, wie es im wirklichen Leben nur möglich ist, und wenn das der Fall war, dann möchte ich den Buddhisten aufrichtig gratulieren; es ist ein angenehmer Zustand, nicht ganz mit geistiger Genialität vereinbar, nicht wirklich rentabel aus ökonomischer Perspektive, aber sehr friedvoll, golden und gelassen, und er stellt einen Menschen über seine Ängste. Man kann es wohl am besten damit vergleichen, sturzbetrunken zu sein und gleichzeitig vollkommen nüchtern, sodass man in der Lage ist, es zu genießen. Schade um Laudanum, wenn es ein besseres Paradies umsonst gibt.

 

Dieser Geisteszustand war der große Gewinn unserer Reise, wenn man sie als Ganzes betrachtet. Es war das entlegenste Ziel, das wir erreichten. Tatsächlich liegt es so weit entfernt von den ausgetretenen Wegen der Sprache, dass ich nicht erwarte, die Sympathie des Lesers für die lächelnde, friedliche Idiotie meines Zustands zu gewinnen; als Ideen kamen und gingen wie Stäubchen im Sonnenlicht; als Bäume und Kirchtürme von Zeit zu Zeit in meiner Wahrnehmung aufragten wie massive Gebilde in einem vorbeiziehenden Wolkenland; als das rhythmische Planschen des Bootes und des Paddels im Wasser ein Wiegenlied wurde, das meine Gedanken einlullte; als ein Schlammspritzer an Deck mir manchmal ein unerträglicher Anblick und manchmal fast ein Gefährte und das Objekt freundlicher Überlegungen war – die ganze Zeit über, während der Fluss dahinströmte und die Ufer sich auf beiden Seiten wandelten, zählte ich unverdrossen meine Schläge und vergaß dabei Hunderte und war das glücklichste Geschöpf in ganz Frankreich.

Aus: Robert Louis Stevenson, „Das Licht der Flüsse. Eine Sommererzählung“, Aufbau, Berlin, 2011.

Gefunden von Karl Spurzem
Bilder: Lars Christiansen